von Petra Reinhart-Becker
Bioenergetik ist ein therapeutisches
Verfahren und eine abenteuerliche Selbstentdeckung durch
den Körper.
Bioenergetik
heißt Lehre von der Lebensenergie.
Diese Lebensenergie ist eine formende Kraft, die uns
zur Entfaltung unserer im Keim angelegten Möglichkeiten
drängt. Sie ist abhängig vom Entwicklungs-
und Funktionszustand des Körpers. Und sie bestimmt
unsere anderen Kräfte: die Kraft der Wahrnehmung
und der Empfindung, der Gedanken, der Tatkraft und die
Kraft des Vertrauens ins Leben.
Der Mensch
und seine Lebenskraft entwickelt sich in Abhängigkeit
von und in Antwort auf die Umgebung durch Bewegung zu
seiner begrenzten Form. Ein Baby wird geboren, bewegt
sich auf die Welt zu und sucht was es für seine
Entwicklung braucht. Bedürfnisse lösen Bewegungen
aus. Das Kind hat Hunger und sucht mit dem Mund nach
der Mutter, die Nahrung verspricht. Je mehr das Kind
mit seiner Suche ankommt und Antwort bekommt, desto
gerichteter werden die Bewegungen. Gute Erfahrungen
bei dieser Suche begründen Selbstvertrauen und
Selbstverständlichkeit in der Beziehung zur Umwelt.
Kommen wir bei unserer Suche nicht oder nur mangelhaft
an, bekommen wir keine oder mangelnde Antwort oder stoßen
wir sogar auf Ablehnung, dann reagieren wir mit Entsetzen,
später mit Frustration.
Diese
Entwicklung mündet in eine Verleugnung der Bedürfnisse,
um den Schreck oder den Schmerz über das Nicht-gehört,
Nicht-gesehen und Nicht-begegnet-werdens zu vermeiden.
Müssen
Bedürfnisse unterdrückt werden, wird das über
die Zurückhaltung der Bewegung und der Atmung organisiert.
Diese Verdrängungs- und Verleugnungarbeit kostet
Muskelkraft. Die Muskulatur wird zum Halten der angelegten
Bewegung genutzt, zur Selbstunterdrückung mißbraucht.
Wilhelm REICH beobachtete bei seiner Arbeit mit Patienten,
daß sie sich gegen die Aufdeckung von einst unerträglichen
Schmerzen systematisch wehrten. Er entdeckte somit spezifische
Widerstandsmuster und führte den Begriff der Charakterstrukturen
ein. Er bemerkte, daß der Widerstand in der Analyse
und die tagtägliche Unterdrückung von Gefühlen
immer mit charakteristischen, chronischen Muskelverspannungen
verbunden sind. Diese Verspannungen sind das wesentliche
Stück am Verdrängungsprozeß und gleichzeitig
die Grundlage seiner dauerhaften Erhaltung.Gleichzeitig
wird der Atem kontrolliert und somit flacher. Die Kontrolle
des Atem dient dazu Konflikte zu vermeiden, die durch
einen offenen Ausdruck der Gefühle erfolgen können.
Die so entstandenen physischen Blockaden und Hemmungen
repräsentieren das Gegenstück zur psychischen
Hemmung. Jede Muskelverspannung sorgt dafür, daß
der ursprüngliche Konflikt und der damit verbundene
Schmerz nicht mehr gespürt und schon garnicht mehr
ausgedrückt werden kann.
REICH
begann, die im Muskelpanzer gebundenen Affekte
nicht nur durch charakteranalytische Arbeit zu behandeln,
sondern auch durch direkte Manipulation der kontrahierten
Muskelgruppen. Dabei setzte er heftige emotionale Entladungen
frei, die einhergingen mit unwillkürlichen Muskelzuckungen
und zu einer Entspannung des Gesamtorganismus, zu einem
gesteigerten Selbstwertgefühl und zu mehr Verbundenheit
führten. Das Ziel seiner Arbeit war die Wiederherstellung
der Orgastischen Potenz und der Selbstregulierung
in Liebe und Arbeit.
Alexander
LOWEN war ursprünglich Klient, später Schüler
von REICH. Sein Interesse zielte vor allem auf die Verbesserung
der psychotherapeutischen Technik. Er bemerkte den Wert
von körperlichen Übungen in der Arbeit mit
Klienten und entwickelte Stressübungen,
die den Körper dort in Bewegung bringen, wo normalerweise
gehalten wird. Er beschreibt die Charakterstrukturen
wesentlich differenzierter als REICH und orientiert
sich dabei an den Bedürfnissen des heranwachsenden
Kindes. D.h. Charakter entsteht in der frühen Kindheit
in Abhängigkeit von, Auseinandersetzung mit und
Abgrenzung gegen die Umwelt und ist so eine kreative
Lösung der sich entfaltenden Person. Charakter
dient der Abwehr von Unlust, der Vermeidung von Schmerz
und der Sicherung eines unter den gegebenen Umständen
möglichen Minimums an Lust. LOWEN sieht Charakter
als eine Fortschreibung von frühkindlichen und
in der Gegenwart weitgehend unbewußten Konflikten,
die als Wiederholung immer wieder neu hergestellt werden
und so zur wiederkehrenden Quelle von Unlust werden.
Je mehr
Muskulatur zum Halten genutzt wird um so weniger bleibt
für die aggressiven sich hinbewegenden
Bewegungen zur Befriedigung der Bedürfnisse. Charakter
ist aber auch veränderbar, abhängig vom Grad
der Verfestigung und vom persönlichen Einsatz für
die Veränderung.Diese Wandlung ist möglich,
da Strukturen dem Stoffwechsel unterliegen. Hilfreich
sind dabei die Bedürfnisse, deren Wahrnehmung zwar
unterdrückt sind, die aber dennoch existieren.
Ziel der bioenergetischen Arbeit ist es, Flexibilität
in diese Gewohnheiten zu bringen, sie zu steuern lernen
und bewußt mit der Lebenskraft umzugehen. Gefördert
wird die Fähigkeit zu fühlen und von ganzem
Herzen zu leben, entwickelt wird eine Gefühlsbewußtheit
anstelle einer intellektuellen Bewußtheit.
Bioenergetik basiert auf
vier Konzepten
Grounding:
geerdet-sein: bezieht sich darauf, wie sicher, wie bezogen
und verbunden ein Mensch auf der Erde steht und im Leben.
Erdung bezeichnet die natürliche Getragenheit im
Leben und zeigt auf, wie eine Person im eigenen Leben
verwurzelt und in tragfähigen menschlichen Beziehungen
verwoben ist.
Ladung:
bezieht sich auf den Energiehaushalt. Über die
Ladung entsteht Selbstkontakt. Die Höhe der Ladung
hängt ab von der Beeindruckbarkeit, der Beweglichkeit
und der Atmung. Sie bedingt gleichzeitig die Ausdrucksfähigkeit
und die Tiefe und Stärke der Gefühle sowie
die Ausstrahlung.
Selbstformung:
beschreibt den Prozeß, in dem wir Strukturen wiederholen
oder umformen. Voraussetzung dazu ist das Bewußtsein
über diese Möglichkeit und die erlernbare
Fähigkeit zu spüren wie und wann wir alte
Strukturen wiederholen.
Containment:
bezeichnet das Vermögen, ein Gefühl zu haben
und zu halten, ohne es unspürbar machen zu müssen
in unpassenden Situationen.
Die Schwerpunkte der bioenergetischen
Arbeit liegen in:
Körperlichen
Übungen zur allgemeinen Vitalisierung und zur Befreiung
des Atems. Der Klient hat die Möglichkeit, sich
seiner Verspannungen bewußt zu werden und den
Impuls wahrzunehmen, der in der Spannung eingefroren
ist.
In der
Analyse entdeckt der Klient den Ursprung seiner Haltung
und der zugrundeliegende Konflikt kann gesehen und erlöst
werden.
Die blockierten
Impulse werden durch geeignete Bewegungen gelöst
und bisher unbekannte Bewegungen, die
in den Alltag integrierbar sind, werden eingeübt.
Leitlinie
in der bioenergetischen Arbeit ist der Kontakt mit dem
Körper. Über den Kontakt mit dem Körper
können die Strömungen unseres inneren Erlebens
bewußt gemacht werden. Bioenergetische Arbeit
kann helfen, unsere Hemmungen und Blockaden zu erkennen
und zunächst beim Üben, später auch im
Alltag zu lockern. Spontaneität kann zunehmen,
die Macht der Gedanken, Selbstgespräche und Phantasien
wird geringer. Ein wesentliches Ziel der Arbeit ist
es, unsere bewußte Kontrolle auf jene Bereich
zu begrenzen, in denen sie sinnvoll ist und der Spontaneität
unseres Körpers und unserer Gefühle mehr Raum
zu geben. Diese Öffnung nach Innen eröffnet
auch den Kontakt zu unserer Umwelt, läßt
uns mitfühlender und verständnisvoller, aber
auch genauer und direkter im Umgang mit Anderen werden.
Insgesamt wird der Ausdruck der Lebensenergie gefördert:
die inneren Bewegungen drängen dazu, etwas zu tun
oder zu lassen, d.h. Bedürfnisse geben wie
am Anfang wieder Orientierung. Wenn wir unser
inneres Strömen wahrnehmen, ihm erlauben sich auszubreiten
und sich auch nach außen hin auszudrücken,
erleben wir uns als lebendig und können uns dem
Leben hingeben.
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